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06.12.2021

Scheißtage

Abstinenz ist das Beste, was mir passieren konnte. Ich betrachte ein Leben ohne Alkohol als Jackpot. Ja, sogar als Privileg. Wenn ich nur eine Message rüberbringen dürfte, dann wäre es diese: Wenn Alkohol zum Problem geworden ist, dann ist ein Leben ohne Alkohol das Beste, das Dir passieren kann. Es ist so, so, so, so, so, so viel besser. Wirklich.

ABER.

Es gibt Scheißtage. Und zwar regelmäßig. Es gibt auch Scheißwochen. Ebenfalls regelmäßig. Und das wird auch nie aufhören. Mein November war voll von Scheißtagen und ich hatte mindestens eine Scheißwoche. Andauernd hatten wir ein Kind in Quarantäne – ein paar Tage lang auch beide. Meine Planung stand Kopf und ich fühlte mich zwischendurch so überfordert, dass ich heulend in mein Kissen geschrien habe. Ich habe wirklich viel geweint in den letzten Wochen. Was vor allem daran lag, dass ein Grundbedürfnis von mir wieder und wieder über den Haufen geworfen wurde: das nach Struktur. Ich habe durch meine Abstinenz gelernt, dass ich mich am wohlsten fühle, wenn Dinge geregelt sind. Ich brauche Struktur. Ich bin nicht flexibel.

ABER.

Ich muss es oft sein. Denn ich komme ja nicht um den Fakt herum, dass ich Mutter von zwei Kleinkindern bin und gleichzeitig ein Unternehmen führe. Ich komme nicht um die Tatsache herum, dass Dinge oft nicht so funktionieren, wie ich mir das wünsche – und dass ich dann Lösungen finden muss. Ich kann nicht wegdiskutieren, wie anstrengend das alles ist. Mir ist klar, wofür ich das mache und ich habe Wege gefunden, es auch auf Dauer mit Freude zu tun.

ABER.

Diese verschissene Pandemie war nicht Teil des Deals. Diese verfickte Quarantäne war nicht Teil des Plans. Ich weiß, dass ich irgendwie damit umgehen muss. Aber es treibt mich an meine Grenzen.

Der November gipfelte in einem Quarantäne-Tag, an dem mein kleiner Sohn gegen die Terrassentür lief und anschließend auf eine heiße Herdplatte fasste. Beides passierte, weil ich so viel im Kopf hatte, dass ich nicht voll bei ihm war. Als er sein Händchen in die Luft hielt, seine Finger wieder und wieder zur Faust ballte, sie abspreizte, zur Faust ballte, sie abspreizte und dabei schrie: “Aua! Aua!”, da dachte ich, dass ich innerlich zerbreche. Zerspringe wie ein Porzellanvase in einer Hochdruckkammer. Ich fühlte mich so schuldig, so unfähig und ohnmächtig. Und diese Extremsituation spülte ein altes Alkoholmuster hoch: Ich fing an, mich selbst fertig zu machen. “Wieso ist so jemand wie Du eigentlich Mutter?!”, tönte es in meinem Kopf. “Wie kann so was passieren? XY wäre sowas nie passiert! Nur, weil Du Dein Leben nicht auf die Kette kriegst, wenn mal was Unverhofftes passiert, muss dein Sohn jetzt Schmerzen erleiden. Krass, dass Du so versagst.”

ABER.

Ich habe schnell bemerkt, was los ist. Und im Gegensatz zu früher lasse ich mich von solchen Anwandlungen nicht mehr in den Abgrund reißen. Ich kenne mich mittlerweile so gut, dass ich weiß: Es ist nur im ersten Moment bequem und einfach, unglücklich zu sein. Sich reinfallen zu lassen. Nochmal draufzutreten und nach ein paar Stunden Masochisten-Modus zum Selbstmitleid zu wechseln. Diese sinnlose, erbarmungslose Härte mir selbst gegenüber, sie war zu Alkoholzeiten wie meine zweite Haut. Ich war Meisterin darin, auf mich einzuprügeln und in solchen Situationen wird mir bewusst, wie gut ich das noch immer könnte.

ABER.

Es gibt einen großen Unterscheid zu früher: Ich mache es nicht mehr. Ich erkenne das Muster und steuere gegen. An diesem Abend habe ich dieses Gedankenmuster gestoppt, indem ich mich in die Vogelperspektive gebeamt und gefragt habe, was gerade wirklich wichtig ist: mein Sohn. Und dass ich den Verstand nicht verliere. Und dass meine Tochter merkt: Sie ist sicher, obwohl es gerade dramatisch ist. Danach habe ich akzeptiert, dass ich gerade Gefühle habe, die ich kaum ertragen kann. Habe sie zugelassen mit dem Wissen: Ich kann das fühlen, es geht vorbei. Und dann habe ich mich bewusst dafür entschieden, glücklich zu sein. Natürlich war ich dadurch nicht automatisch glücklich.

ABER.

Dieser Trick ermöglichte es mir, wieder einen Blick zu haben für die schönen Dinge, die ja auch immer da sind. So sah ich meinen Mann, wie er mir das schreiende Kind vom Arm nahm, mit einer Seelenruhe ins Badezimmer stiefelte, sich dort mit ihm vors Waschbecken setzte, einen Waschlappen um sein Händchen legte und die nächste Stunde damit verbrachte, mit einem bunten Zahnputzbecher Wasser drüberzuschütten. So musste ich laut loslachen, als meine Tochter aus heiterem Himmel zu mir sagte: “Mami, ich will was Süßes. Aber was richtiges Süßes, nichts gesundes Süßes!” So holte ich den Schokoladenkuchen aus dem Kühlschrank und entschied spontan, dass es den zum Abendessen geben würde. So stieg ich später in mein warmes Bett und freute mich über die zweieinhalb Weihnachtslichter, die ich draußen aufgehängt hatte. So wurde mir wieder warm ums Herz, als Stefan mir schrieb: “Gute Nacht. Du wirst sehen, kriegen wir alles hin.”

Es ist gerade eine harte Zeit. Und falls es Dir gerade ähnlich geht, gebe ich diese wichtige Botschaft hiermit an Dich weiter: “Es geht vorbei. Und Du wirst sehen, kriegen wir alles hin.”


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